Fußball, Feiern, Freiwilligendienst? – Mein Jahr mit weltwärts in Ecuador
Lina verbrachte das letzte Jahr mit weltwärts in Ecuador. Sie berichtet uns von ihren persönlichen Höhen und Tiefen während ihres Freiwilligendienstes.
Warte, was ist weltwärts?
Weltwärts ist ein geförderter Freiwilligendienst, der zu 75 Prozent vom BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) finanziert wird. Die verbleibenden 25 Prozent liegen in den Händen der Partnerorganisationen und werden üblicherweise von den Freiwilligen selbst aufgebracht, in Form von Spenderkreisen. Falls dies nicht möglich ist, werden die Kosten allerdings von der Partnerorganisation übernommen.
Förderungswürdig sind gesellschaftlich interessierte, offene Menschen mit einem Schul- oder Berufsabschluss zwischen 18 und 28 Jahren bzw. 35 Jahren bei einer Beeinträchtigung oder Behinderung. Ferner ist der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft oder eines dauerhaften Aufenthaltsrechts notwendig.
Bewerbungen sind direkt bei den Partnerorganisationen einzureichen, die sich über die weltwärts-Börse ausfindig machen lassen.
In Hamburg sagt man Tschüss
Als ich am 16. August 2023 im Flieger saß, verspürte ich eine Mischung aus Ahnungslosigkeit, Neugier und Euphorie. Nach unzähligen Abschieden hieß es das erste Mal in meinem Leben, raus aus Hamburg für ein Jahr und rein ins Ungewisse.
Damit war ich nicht die Einzige, denn laut der weltwärts-Statistik aus dem April 2024 befinden sich aktuell 192 Freiwillige in Ecuador. Damit ist Ecuador das populärste Weltwärts-Land dieses Jahres. Und ich kann verstehen, warum.
Doch was verschlug mich genau hier hin?
Bevor ich mich auf meinen Freiwilligendienst begab, war meine Vorstellung von dem Jahr sehr schwammig. Trotz Erfahrungsberichten und unzähligen Recherchen im weltwärts-Portal schien mich das unendliche Angebot zu überfluten.
Daher fokussierte ich mich auf die Sachen, die ich wusste: „Welcher Tätigkeit möchte ich ein Jahr lang nachgehen?“, „Wo würde ich gerne leben?“ bzw. „Welche Sprache möchte ich erlernen?“. Gerade die letzte Frage schränkte die Auswahl erheblich ein und führte mich schließlich nach Ecuador.
Aus jetziger Sicht weiß ich, dass es ohnehin ein riesiger Vorteil war, keine konkreten Kriterien im Kopf zu haben, als ich zu meinem Freiwilligendienst aufbrach. Offenheit und Freude an Neuem sind die wichtigsten Gegenstände in jedem Koffer.
Vorab war es außerdem ein schweres Unterfangen, sich ein Bild über die Sicherheitslage oder das gesellschaftliche Leben vor Ort zu verschaffen. Daher rate ich dazu, den Partnerorganisationen zu vertrauen und sich ohne Angst auf das Land einzulassen, das einen anspricht.
Das Shungo schlägt für Fußball
Hinsichtlich meiner Wahl mit Ecuador, bin ich mehr als zufrieden und habe meine Entscheidung kein einziges Mal bereut. Als verhältnismäßig kleines Land in Lateinamerika beherbergt es vier verschiedene Klimazonen und hat damit eine unglaubliche Artenvielfalt inne. Wer kann schon von sich behaupten, von Quito, der höchsten Hauptstadt der Welt, innerhalb eines Tages bis an die Küste, zum Amazonas oder nach Galapagos zu gelangen?
UNESCO-Weltkulturerbe
Auch kulturell kommt man in Ecuador auf seine Kosten. So wurde die historische Altstadt in Quito schon 1978 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. In der Altstadt findet sich eine Pracht an Kirchen und Tempeln, wie die Basílica del Voto Nacional.
Kultur
Ebenso sind die indigenen Wurzeln spürbar, die in Traditionen am Tag der Toten oder bei den Stadtfesten zum Vorschein kommen. Ursprünglich hat jede Region in Ecuador unterschiedliche traditionelle Kleidung und es wird an Feiertagen häufig getanzt. Im Alltag stolpert man immer wieder über Begriffe der indigenen Sprache Kichwa z. B. „achachay“ (Ausruf, wenn es sehr kalt ist) und „shungo“ (Herz).
Fußball
Und nicht zu vergessen: Der Fußball. Er erfreut sich ebenfalls großer Beliebtheit und an Spieltagen der Liga de Quito (Fußballmannschaft aus Quito) ist er unübersehbar, da es nur so von gelben Trikots wimmelt.
Die Copa América, das Fußballturnier um den Südamerikameister, wird zudem gemeinsam verfolgt. Die Liebe zum Fußball stärkt mein Heimatgefühl in Ecuador und nicht selten werde ich auf meine St. Pauli Pullover angesprochen, was ein herzliches Gespräch eröffnet.
Spanisch, Salsa und das Seminar
Bei der Landung hatte ich von alldem nur einen blassen Schimmer. Die Dopaminschübe legten sich langsam und jetzt hieß es: „Wo finde ich einen Adapter?“ „Wie funktioniert das mit der SIM-Karte?“ und „Reicht mein Schulspanisch überhaupt?“.
Was für ein Glück, dass ich nicht alleine war. In unserer knapp 20-köpfigen Gruppe fand sich schnell jemand mit Adapter, und alle weiteren Bedenken waren beim Kennenlernen unserer Aufnahmeorganisation wie verflogen.
Wir wurden nämlich von meiner warmen Koordinatorin am Flughafen empfangen und mit dem Reisebus in ein Hostel gefahren, wo wir die erste Nacht verbrachten. Den darauffolgenden Tag erhielten wir eine Sicherheitseinweisung auf Englisch und Briefe von den Vorfreiwilligen mit Tipps für den kommenden Alltag.
Anschließend hieß es erneut: Abschied nehmen. Denn in Zweier-Tandems verließen wir unser Nest und flogen aus in die Gastfamilien, unser zu Hause auf Zeit. Innerhalb der nächsten zwei Wochen bekamen wir nämlich die Möglichkeit, an vorbereitenden Seminaren zur Kultur Ecuadors und zu unseren künftigen Projekten teilzunehmen.
Im Mittelpunkt standen dabei die Spanischkurse, die uns neben wichtigen Skills Salsa und die Früchte vom Markt näherbrachten. Bei einem dieser Ausflüge lernte ich das bekannte Eis mit Käse kennen, meiner Meinung nach eine Schande für den Nachtisch. Drachenfrüchte und Granadillas sind die Wiedergutmachung dafür.
Wir lernten nicht nur Ecuador, sondern auch einander besser kennen und trafen beim Ausgehen direkt auf… Wer hätte es gedacht… noch mehr Deutsche. Die Eingewöhnung verlief also bestens und ich war froh, mit zwei Freiwilligen in Quito zu bleiben, als am Ende alle in ihre Einsatzstellen, verstreut über Ecuador, aufbrachen.
Brotlose Arbeit
Apropos Einsatzstelle: Die Arbeit in einer Flüchtlingsorganisation mit Kindern war in meiner Vorstellung etwas abwechslungsreicher als sieben Stunden täglich am Scanner zu stehen.
Es stellte sich heraus, dass die Chefin die gesamten Büroakten digitalisieren wollte und eine Freiwillige mit wenig Spanischkenntnissen für diese Arbeit ideal war. Meiner Vorstellung entsprach solch eine stupide Tätigkeit jedoch absolut nicht dem Sinn des Kulturaustausches in meinem Freiwilligendienst.
Somit suchte ich das Gespräch, und nachdem mir lediglich eine Arbeit mit Kindern, einmal pro Woche ab Januar, in Aussicht gestellt wurde, wandte ich mich an meine Organisation.
Neues Projekt
Hier traf ich glücklicherweise auf offene Ohren und es wurde die Entscheidung gefällt, dass ich nach 1,5 Monaten mein Projekt wechselte.
Meine endgültige Einsatzstelle wurde ein Kindergarten mit Engeln und Bengeln von einem bis drei Jahren. Dort arbeitete ich die 10 verbleibenden Monate, als Unterstützung in der Gruppe mit den Jüngsten.
Es war eine viel praktisch orientiertere und körperliche Arbeit, was für mich die erwünschte Abwechslung bot. Nebenbei erweiterte ich mein Alltagsspanisch. Mir kamen dabei die unterschiedlichen Themen pro Woche besonders zugute, die z. B. Fahrzeuge, Weihnachten und Muttertag behandelten.
Mein Tagesablauf
Mein typischer Arbeitstag begann um 7.30 Uhr mit dem Empfang der Kinder (dazu zählte Kleidung ablegen, Taschen verstauen, auf die Toilette begleiten) und ging weiter mit dem Frühstück um 8 Uhr. Gerade die Kleinsten waren auf viel Unterstützung beim Essen angewiesen.
Nach dem Füttern wurde ab 9 Uhr gespielt, während wir die Kinder wickelten. Entweder in unserem Raum mit Büchern, Bällen oder Kuscheltieren, im Toberaum mit Bällebad und Klettergerüst oder in der Küchenzeile.
Um 10 Uhr war es dann so weit für das Obst und wir wuschen allen Kindern die Hände und begleiteten sie zum Esszimmer. Für mich und die Erzieherinnen war das die Möglichkeit, selbst erneut zu frühstücken, und ich probierte mich durch Empanadas, „Arroz con leche“ (Milchreis) und Papayas. Zwar sehr lecker, aber mit der Zeit hätte ich alles für ein frisches deutsches Brot eingetauscht.
Meistens fand nach dem zweiten Essen die Aktivität statt, mit einem Bezug zum Thema der Woche. Wir spielten mit Fahrzeugen, kneteten die Umrisse von Ecuador und bastelten Muttertagskarten.
Der gesamte Kindergarten wurde wöchentlich dem Motto entsprechend dekoriert, so dass ich auf Galapagos, im Winter Wonderland und im Zoo arbeitete. Manchmal ging das Ganze sogar so weit, dass wir alle in Kostümen zum Kindergarten kamen. Ob mit Zebrahemd oder als Weihnachtselfe, ich konnte meiner Kreativität freien Lauf lassen.
Ich bemalte die Wand des Toberaums, führte mit den Erzieherinnen Weihnachtstänze auf und sang mit den Kindern vor dem Mittagessen.
Danach gab es immer die tägliche „Siesta“ (Mittagsschlaf), die Kinder wurden gewickelt, gewaschen, umgezogen und ins Bett gebracht.
Anfangs endete mein Arbeitstag um 16 Uhr, später um 13.30 Uhr und danach brauchte ich selbst erstmal eine Siesta.
Zusammenfassend entwickelte sich einiges seit meinem holprigen Start in der Flüchtlingsorganisation. An manchen Tagen wünschte ich mir die Stille im Büro zurück und es war ein Segen, wenn die Kinder einschliefen. An anderen ging ein Kind seine ersten Schritte und ich schätzte, was ich durch meine Arbeit erleben konnte.
Einiges werde ich ab und an sicherlich vermissen, aber nicht das Brot!
Baby (Beach) – Zwischen Alltag und Reisen
Babys waren nicht nur ein Teil meiner Arbeit, sondern seit Dezember auch Gesprächsthema an unserem Abendbrottisch. Meine Gastschwester, die unter mir wohnte, war nämlich wieder schwanger. Bis ich Thiago im Arm hielt, sollten noch acht Monate vergehen.
Derweil ging es in meiner Familie bereits trubelig zu. Ich wohnte zwar mit meinen Gasteltern und zwei Gastgeschwistern oben, aber häufig kam mein Gastneffe von unten vorbei.
Mehr als einmal fand ich beim Nachhausekommen zu meiner Überraschung, ein volles Wohnzimmer vor. Gefüllt mit lauter Tanten und Onkeln, die mir bisher unbekannt waren. Diese häufige Art von spontanen Familientreffen war mir zuvor unbekannt und doch ließ mich das herzliche Begrüßen (in Ecuador typischerweise ein Kuss auf die linke Wange) schnell wohlfühlen.
Unter der Woche aß ich gemeinsam mit meiner Familie, schaute Fußball und wurde von meinen Gasteltern in ihrer ganz eigenen Version von Rommé abgezogen. Dafür revanchierte ich mich später bei einem Cuarenta-Turnier („Cuarenta“ also Vierzig, ist ein sehr beliebtes Kartenspiel in Ecuador).
Kurztrips
Außerhalb unserer vier Wände unternahmen wir einen Kurztrip an die Küste, feierten Geburtstage und Vatertage und gingen aus. Mit meiner Familie und Freunden nahm ich an dem Programm der „Fiestas de Quito“ (Quito-Stadtfeste) teil, das sich über bunte Partybusse, auch Chivas genannt, Konzerte und Tanzen auf der Straße mit Canelazo (typisches Mischgetränk) erstreckte.
Abende und Freizeit in Ecuador
Darüber hinaus machte ich mit meinen Freunden Hauspartys und das Lost City unsicher. Ich kann allerdings nur von dem touristischen „Partyviertel“ La Foch abraten, aus Sicherheitsgründen und wegen der größeren Gefahr von absolut schlechter Musik. Lieber mit den Locals in Salsotecas zu Reggaeton tanzen.
Quito ist wie alle Großstädte ein guter Ort für Raves, Museen und Flohmärkte. Und wie in allen Großstädten, sucht man sich den Dorfflair in seinem eigenen Viertel und wundert sich dann, wenn man ständig denselben Leuten über den Weg läuft.
In meinem Fall verbrachten wir die meiste Zeit in la floresta, dem Künstlerviertel. La floresta ist das Kreuzberg Ecuadors. Es gibt kleine, einzigartige Läden, leckeres Essen, Bars und ein hippes Kino. Schöne Stunden saßen wir auch einfach im Saftladen oder Skaterpark.
Mit den richtigen Leuten braucht es kein Programm, selbst eine 24-stündige Busfahrt fühlt sich wie ein Spaziergang an (angelehnt an wahre Begebenheiten). In meinem Jahr in Ecuador hatte ich also ein Zuhause in Quito gefunden und in meiner Quito family.
Auf besagte 24 Stunden Busfahrt möchte ich nicht weiter eingehen. Viel lieber erinnere ich mich an die Reisen mit meinen Freund*innen zurück.
Ich komme ins Schwärmen, wenn ich zurückdenke an Papageien und Affen im Amazonas oder Pinguine und Schildkröten auf Galapagos. Nicht zu vergessen den Anblick von Machu Picchu in der Sonne oder das Schwimmen am Baby Beach auf Aruba.
Einzigartig war zudem, Meerschweinchen in Kolumbien zu essen und den Vulkan Acatenango ausbrechen zu sehen. Diese Reisen und viele mehr zählen zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens.
Zurückkehren ist wie Schlussmachen
Mit einem prallvollen Fotoalbum, einem eigenen Podcast und fünf spanischen Büchern mehr bin ich im letzten Monat meines Freiwilligendienstes angelangt. Bald heißt es wieder einmal Koffer packen, nur dass ich diesmal nicht nach einer Woche mit einem neuen Kühlschrankmagneten vor der Haustür meiner Gastfamilie stehen werde.
Ein Auslandsjahr ist ein bisschen wie eine Beziehung. Man verliebt sich in jeden Aspekt des Landes, nimmt früher oder später die rosarote Brille ab und erkennt plötzlich Probleme, durchläuft Höhen und Tiefen und akzeptiert letztlich, dass man zwar schon viel von dem Land gesehen, aber noch längst nicht alles begriffen hat.
Deshalb schmerzt es auch so sehr, ein Auslandsjahr gehen zu lassen. Denn es ist ein so großer Teil von einem selbst geworden.
Doch wie bei jeder Trennung, im besten Fall, erkennt man, dass es an der Zeit für einen neuen Lebensabschnitt ist und die gemeinsamen Erinnerungen bleiben für immer.
Es tut weh, sich zu verabschieden und zu realisieren, dass ein neuer Abschnitt wieder bedeutet, sich selbst aufs Neue kennenzulernen. Jedoch ist ein Wiedersehen nicht ausgeschlossen, auch wenn sich das Land und man selbst verändern werden. Ich persönlich finde Trost in dem Gedanken, dass, was ich einmal als zu Hause auf Zeit bezeichnete, jetzt nur einen Abschied auf Zeit von mir entfernt liegt.
Höre Dir Linas Podcast an!
In ihrem Podcast „linarrator“ erzählt Dir Lina von spannenden Erlebnissen während ihres Freiwilligendienstes in Ecuador. Du findest “linarrator” auf Spotify.
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