Gastfamilie sein: 35 Familienmitglieder auf Zeit
Gastfamilie Herbst im GesprÀch
AnlĂ€sslich des 90-jĂ€hrigen JubilĂ€ums von Experiment möchten wir mit Gastfamilien sprechen, die uns schon seit vielen Jahren begleiten. Familie Herbst begleitet Experiment schon seit mehr als 15 Jahren. Dieses Jahr nehmen sie ihr 35. Gastkind auf. Aufgrund der langjĂ€hrigen Erfahrung haben wir mit Silke und Hajo Herbst ein Interview gefĂŒhrt, in dem sie uns ĂŒber ihre Erlebnisse mit den Gastkindern erzĂ€hlen und den einen oder anderen Tipp an zukĂŒnftige Gastfamilien weitergeben.
Wie kam es dazu, dass Sie den Wunsch hatten, Gastfamilie sein zu wollen?
Frau Herbst: âDas ist eigentlich eine schnell erzĂ€hlte Geschichte. Wir haben vier Kinder und unser Ă€ltester Sohn, Jannes, ist ein Weltenbummler. Er hatte die Idee, ins Ausland zu gehen. Daraufhin haben wir uns mit der Familie beraten. Erst waren wir alle ein wenig skeptisch, aber dann waren auch wir als Eltern Feuer und Flamme. Und wenn vier Kinder im Haus sind und eins dann weg ist, dann fehlt eins. Also war fĂŒr uns klar, in der Zeit muss in jedem Fall ein Gast zu uns kommen. Dann geht es natĂŒrlich immer viel schneller als man denkt. Wir wissen ja inzwischen auch, dass Gastfamilien hĂ€nderingend gesucht werden. Und wir hatten dann im letzten Jahr, als er noch hier war, schon unseren ersten Gast. Das heiĂt wir waren dann zu fĂŒnft. Das war Nastja aus Moskau. Wir hatten damals eine ganz tolle Zeit.â
Das hört sich nach einer tollen Erfahrung an. Wie war es fĂŒr Sie das erste Mal eine GastschĂŒlerin aufgenommen zu haben?
Frau Herbst: âKomisch, fĂŒr beide Seiten, weil man aufgeregt ist. Man hat einen neuen Menschen bei sich zu Hause. Nastja sprach gar kein Englisch, gar kein Deutsch. Wir haben dann unsere Schulkenntnisse in Russisch ausgraben mĂŒssen, aber man sitzt natĂŒrlich total ruhig auf der Couch. Beide Seiten sind furchtbar aufgeregt. Das braucht dann ein paar Tage, ehe man die Scheu ĂŒberwindet und die FĂŒĂe auf dem Sofa auch mal wieder hochlegen kann. Das ist komisch gewesen zu Anfang. Man muss dazu sagen, dass unsere beiden kleinen Kinder noch recht jung zu dem Zeitpunkt waren und da waren natĂŒrlich weniger Hemmungen, die sind direkt auf Nastja los. Es war eine ganz  spannende Zeit.â
Sie haben mir grade von Ihrer ersten Erfahrung berichtet. Nun interessiert mich, welches denn Ihr schönstes Erlebnis als Gastfamilie war?
Frau Herbst: âDas ist so viel. Ich habe natĂŒrlich jetzt tausende Bilder im Kopf, das ist klar. Das sind einerseits Sachen, wie dass die Sprache langsam erlernt wurde oder man zusammen lachen kann. Bei Nastja war es so, dass die Mutti ihr Geld mit gegeben hatte und es war plötzlich verschwunden. Nastja konnte sich nicht ausdrĂŒcken. Ich habe dann schnell meine SchwĂ€gerin geholt und wir haben zusammen das Geld gesucht. Bis die Mutter von Nastja dann schrieb, dass sie es in einer Tasche versteckt hatte. Das war aber erst Tage spĂ€ter. Das war sehr aufregend, das werde ich niemals vergessen. Andererseits natĂŒrlich auch total schöne, rĂŒhrende Erlebnisse. Man fiebert immer mit, wie die Gastkinder in die Familie reinwachsen. Das ist wirklich sehr schön mitzuerleben. Sie gehören zur eigenen Familie dann dazu, das ist wirklich toll. Und das Besondere ist dann wirklich, dass man den Gast ĂŒber ein ganzes Schuljahr hat.â
Also haben Sie auch noch zu einigen GastschĂŒler*innen Kontakt?
Frau Herbst: âJa, zu vielen ganz intensiven Kontakt und zu anderen eher weniger. Einige haben uns danach noch besucht, zum Teil mit ihren Eltern. Einige haben wir auch im Heimatland bei ihren Familien besucht. Wir gratulieren zu Geburtstagen und skypen dann regelmĂ€Ăig. Man verliert den Kontakt nicht aus den Augen, aber man hat zu einigen halt mehr und zu anderen weniger Kontakt.”
Wieso haben Sie sich damals fĂŒr Experiment entschieden?
Herr Herbst: âWir hatten vorher von einer anderen Organisation jemanden und dann war eine Annonce in der Zeitung. DarĂŒber haben wir Kontakt aufgenommen zu Experiment. Die andere Organisation hat sehr begrenzt und individuell SchĂŒler*innen vermittelt, aufgrund dessen ist auch die LĂ€nderanzahl sehr begrenzt gewesen. Die Organisation hat sich nur auf drei bis vier LĂ€nder spezialisiert. Wir wollten auch mal weiter herausgucken und andere Kulturen kennenlernen.â
Wie sieht ein Alltag mit einem Gastkind aus?
Herr Herbst: âWie es in der Familie so geht. Wir haben zurzeit nur noch eine Tochter, die zu Hause lebt, sonst wĂ€ren es mehr Kinder. Wir stehen gegen 5:45 Uhr auf. Die Kinder kommen dann nach und nach herausgekrochen. Die Gastkinder auch irgendwann. Um 6:20 Uhr ist FrĂŒhstĂŒck. Dann treffen wir uns alle in der KĂŒche und essen gemeinsam. Auch unter der Woche. Das dauert allerdings maximal 10 Minuten. Meist fahre ich dann gegen 6:40 Uhr los zur Arbeit und nehme die Kinder mit zur Schule. Manchmal nimmt auch meine Ă€lteste Tochter die Kinder mit, dann fahren sie ein bisschen spĂ€ter. Nachmittags, so gegen 16 Uhr, sind alle wieder da. Oft nehme ich sie auch wieder mit nach Hause. Dann kaufen wir ein. Meist jeden Tag. Es werden Aufgaben im Haushalt erledigt. Das Abendbrot gibt es gegen 18:30 Uhr. Danach hat jede*r seine Freizeit. Wir machen dann nicht mehr viel miteinander. Die Kinder haben dann ihre Chatzeiten. Das Licht geht bei uns bereits um 20 Uhr aus. Bei den Kindern wird das bestimmt spĂ€ter sein.â
Was waren zu Beginn Ihre Erwartungen an einen interkulturellen Austausch und wurden diese erfĂŒllt?
Herr Herbst: âDie Erwartungen wurden gröĂtenteils erfĂŒllt. Allerdings hatten wir bei den ersten AustauschschĂŒler*innen nur positive Erfahrungen. Was natĂŒrlich dazu beitrug, dass wir immer mal wieder jemanden genommen haben. Von anderen Familien haben wir dann mitbekommen, dass es immer mal wieder Probleme geben kann. Wir haben dann mit Problemen gerechnet. Aber konnten diese immer gut lösen.â
Um welche Art von Problemen handelte es sich?
Herr Herbst: âEinmal ist es der typische Zeitverlauf, der auch von Experiment in den Unterlagen und den Anfangsseminaren gelehrt wird. Zum einen das Heimwehtief nach sechs bis acht Wochen. Das ist relativ gut hĂ€ndelbar. Zum anderen die mögliche Problemsituation, meist im Februar. Die ersten sechs Wochen ist man Urlauber*in, das heiĂt man hat noch wenige Aufgaben im Haushalt. Zur Winterzeit verbringt man dann mehr Zeit miteinander, einfach, weil man mehr zu Hause ist. Dann kann es auch mal zu Reibereien kommen. Hierbei fĂŒgt sich das Gastkind zuerst noch. Aber man spĂŒrt dann irgendwann, dass das Gastkind ĂŒberlegt, die Gastfamilie zu wechseln, weil es beispielsweise die Freund*innen auch so machen. Dann im Februar kommt meistens so ein Punkt wo es krachen kann. Das Problem wird dann meist angesprochen. Die Gastkinder lassen sich dann weniger gefallen und wir stellen dann eine Forderung. Mit der Zeit renkt sich dann alles wieder ein. Die Gastkinder haben dann ihre Integration auch auĂerhalb der Familie gefunden. Wir sind dann nur noch die Gasteltern. Wenn jetzt Probleme wĂ€ren, wĂŒrde man sie aushalten und es wĂŒrde nicht eskalieren, weil man einmal schon ein Problem gelöst hat. Letztendlich sind die Gastkinder aber auch wie die eigenen Kinder und wer sagt, er hĂ€tte nie Probleme mit seinen Kindern, das kann ich nicht glauben. Das ist normal. Es gibt immer gute und schlechte Zeiten.â
Was wĂŒrden Sie denn sagen, ist der Tipp fĂŒr Gastfamilien?
Herr Herbst: âEin groĂer Tipp, der nirgends steht, ist: Nehmen Sie nie ein Kind oder vorrangig kein Kind, welches genauso alt ist wie Ihre Kinder. Das gibt ein Spannungsfeld, was nicht gewollt ist, weil die Austauschfamilie davon ausgeht, dass das eigentlich super wĂ€re, weil die ja gleich alt sind und in die gleiche Klasse gehen können und zusammen die Freizeit gestalten können. Die Gastkinder und die eigenen Kinder beschnuppern sich wie Katzen und dann gibt es eine Freundschaft oder keine Freundschaft. Und bei 15/16-jĂ€hrigen Kindern zĂ€hlt auch wenig Diplomatie. Also das ist die pubertĂ€re Phase und, ja, da kommt es schnell zu der Bestimmung der Hackordnung. Und das ist, wenn Kinder unterschiedlich alt sind anders. Da ist die Freiheit, was fĂŒr sich zu machen, viel gröĂer. Die können sich dann eigene Freund*innen suchen, man muss sich die Freund*innen nicht teilen. Das ist einfach besser. Optimal ist es natĂŒrlich, wenn sehr kleine Kinder in der Familie sind. Die können alle Probleme flicken, weil die muss man ja lieben.â
Ich habe gehört, Sie haben eine SchĂŒlerin aus Indonesien aufgenommen bzw. nehmen sie jetzt noch auf und das lĂ€uft dieses Mal ein bisschen anders ab, als eigentlich ĂŒblich. Wie kam es dazu?
Herr Herbst: âDas sind zwei Sachen. Wir wissen von anderen Organisationen, dass die auch privat vermittelt haben, weil es einfach schwierig ist fĂŒr manche Familien offizielle Angelegenheiten wie Visa oder Versicherung zu regeln. Zum anderen, wieso wir grade Indonesien gewĂ€hlt haben. Eine unserer ersten Lehrerinnen, die wir [mit Experiment] aufgenommen haben, kommt aus Indonesien. Sie heiĂt Raia. Raia setzt sich in Indonesien sehr fĂŒr die deutsche Kultur ein und vor allem auch an einer Schule, wo sehr gleichberechtigt MĂ€dchen mit unterrichtet werden. Und wir hatten ĂŒber die Jahre immer mal wieder Kontakt zu Raia. Und dann haben wir beschlossen, dass wir ein Stipendium anbieten, indem wir eine SchĂŒlerin aus der Schule hierherholen, die sonst wahrscheinlich wenige Chancen hĂ€tten. Indonesien wird nicht groĂartig von Austauschorganisationen bedient.â
Wann soll das Gastkind aus Indonesien kommen?
Herr Herbst: âIm August, Anfang September. Der Plan ist, dass das Gastkind auch an allen Kursen von Experiment teilnimmt, genauso wie andere Austauschkinder auch.â
Frau Herbst: âDas AuswĂ€hlen des Austauschkindes war auch nicht so einfach. Raia ist das sehr schwergefallen. Die Schule hat dann aus zehn Interessierten drei ausgewĂ€hlt und uns vorgeschlagen. Wir haben uns dann in der Familie fĂŒr ein MĂ€dchen namens Nadine entschieden, die uns dann nĂ€chstes Jahr besuchen wird.â
Eine abschlieĂende Frage: WĂŒrden Sie behaupten, dass Experiment Ihr Leben durch den Austausch verĂ€ndert hat?
Frau Herbst: âJa, insofern, als wir als Familie die Aufnahme eines*einer GastschĂŒler*in nicht mehr missen möchten. Wir haben das fĂŒr uns schon so integriert, dass es gar nicht mehr wegzudenken wĂ€re.â
Herr Herbst: âIch wĂŒrde es sogar noch ein bisschen schĂ€rfer formulieren. Vielleicht ist die Austauschorganisation auch ein bisschen unser Handlanger gewesen, fĂŒr das, was wir uns gewĂŒnscht haben. Wir hatten frĂŒher schon immer gerne GĂ€ste gehabt, auch gerne auslĂ€ndische GĂ€ste. Und die Philosophie in unserem Haus ist eigentlich âWir haben Platz fĂŒr alle und hier kann jede*r schlafen.â Das war vorher auch schon so und dann ist es natĂŒrlich toll, wenn man eine Organisation findet, die genau unsere Idee offiziell verfolgt.â
Frau Herbst: âUnd dadurch, dass wir eben mit Experiment vertraut sind, kennt Experiment uns auch ganz genau. Das ist so ein Hand in Hand gehen. Da herrscht groĂes Vertrauen. Wenn Experiment sagt, wir haben einen Gast fĂŒr Euch, der passt, dann passt es auch in den meisten FĂ€llen. Es ist schön. Und man hat eben eine direkte Ansprechperson. Wir hatten fĂŒr ein Jahr auch mal jemanden von einer anderen Austauschorganisation. Aber das war so unpersönlich. Und genau das ist das besondere an Experiment. Man hat Menschen, mit denen man vor Ort direkt sprechen kann.â
Wir danken Familie Herbst fĂŒr so viel Offenheit und die langjĂ€hrige Bereitschaft, neue Gastkinder aufzunehmen. Als Gastfamilie holt man sich die Welt nach Hause und erlebt den interkulturellen Austausch in den eigenen vier WĂ€nden. Haben auch Sie eine spannende Geschichte zu erzĂ€hlen? Dann melden Sie sich gerne bei Laura Doclot (doclot@experiment-ev.de). Â
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